Wovon lebt eine Stadt? Genau. Von ihrem Herzschlag. Und was macht den Puls aus? Ihre Bewohner. Und einige von ihnen zeichnen das Gesicht der Stadt, einige fallen auf und sind irgendwann genauso Inventar wie der Hafen oder die Reeperbahn.
Gestern war ich mal wieder in der Stadt, mit einer guten Freundin, die Hamburg erst seit einigen Monaten kennt. Eine Stimme, laut wie ein Orkan, schepperte in meinen Ohren, ich kannte sie schon zur Genüge und nahm sie deshalb bewusst gar nicht wahr. Meine Freundin jedoch spitzte lauschend die Ohren: ,,Lass uns mal dahin gehen! Ich will da zuhören!“
Also gingen wir. Und hörten dem komischen Kauz zu, der seit Jahren in der Innenstadt die Masse unterhält. Er trägt eine Glatze, alltägliche Kleidung. Und er schreitet auf und ab, immer im Kreis, während er hart gestikulierend die Masse anbrüllt:
,,Glaubt ihr, ihr seid Jesus egal? Glaubt ihr, er leidet nicht mit euch und sieht nicht, wenn ihr an Krebs erkrankt?“
Heute trägt er ein riesiges, hölzernes Kreuz mit sich herum, wedelt – beinahe drohend – beim Sprechen damit auf und ab. Ein paar Jugendliche stehen am Rand und lachen überdeutlich, um ihm die Abneigung über das Gesprochene kundzutun. Meine Freundin lacht nicht. Sie steht da, mit offenem Mund und kriegt sich gar nicht mehr ein. ,,Was, um Himmels Willen, macht der denn da?“
,,Die Masse missionieren.“, antworte ich trocken.
Dass in einer Innenstadt ab und an mal komische Kauze auftauchen, komische Sachen sagen oder tun, das ist normal. Kennen wir alle. Besonders in einer Großstadt ist das nichts unübliches. Diesen Kerl jedoch, kenne ich, seitdem ich das erste Mal in Hamburg gewesen bin. Da war ich ungefähr zwölf und kriegte meinen Mund, genau wie meine Freundin, nicht mehr zu, während mein Vater mich hinter sich her zerrte.
Ich weiß nicht, seit wievielen Jahren der Mann sich in die Innenstadt stellt, mit einer abgewetzten Bibel in der Hand, und den vorbei laufenden Menschen erzählt, dass Jesus sie liebt – obwohl offenkundiger Weise niemand diese Liebe zu erwidern scheint. Zumindest nicht offensichtlich.
Das beirrt den Mann jedoch nicht. Immer wieder, immer aufs Neue. Er mälträtiert die Menschen in Massenverarbeitung. Denn sie sind peinlich berührt, sie sind oft nicht seiner Meinung und oft sind sie es doch. Man fragt sich, ob Jesus das gewollt hätte, dass sich da jemand auf die Straße stellt und alle ihm nur aus einem Grunde zuhören: An der Schadenfreude daran, dass jemand anderes sich lächerlich macht. Die alteingesessenen Hamburger bleiben schon gar nicht mehr stehen. Touristen wissen nicht, was sie davon halten sollen. Oft brüllt er auch einfach nur einen luftleeren Raum an, wenn überhaupt niemand im zuhört und alle das Weite suchen.
Nur eines ist sicher: dass er wiederkommt. Immer wieder. Seine Stimme ist mittlerweile ein abgekratztes Hamburg-Lied. Eine traurige Melodie, zu laut, zu aufdringlich. Falsche Töne, ein verrutschter Rythmus. Doch während die Möwen kreischen und der Kiez trommelt, brüllt er seinen Song. Gegen den Wind, mit erhobenem Haupte. Ein kauziges Hamburg. Und, wer weiß das schon, vielleicht hat er ja auch Recht.